Scharbeutz – Volle Wanderwege, belegte Parkplätze, hochfrequentierte Attraktionen: Diese Probleme gibt es schon seit langem an touristischen Hotspots. Die Corona-Pandemie hat an vielen Orten die Situation verschärft, zuweilen bleiben nur noch Sperrungen, um einer Überlastung zu begegnen. Beschränkungen, Verbote und Barrieren sind aber aufwändig und für Besucher frustrierend, denn sie sind erst dann zu sehen, wenn es schon zu spät ist.
Deshalb werden smarte Lösungen erforscht, um Menschen digital zu informieren und damit rechtzeitig und freiwillig eine lenkende Funktion zu ermöglichen. Dadurch sollen Menschen animiert werden, Ziele zu suchen, die nicht allzu stark besucht und vielleicht überlastet sind.
Das Projekt AIR (AI-basierter Recommender für nachhaltigen Tourismus) untersucht in einem bundesweiten Verbund von Destinationspraktikern und Forschungspartnern, wie ein solches digitales Besuchermanagement gestaltet werden muss, um Besucher frühzeitig mit geeigneten Informationen über die aktuelle oder zu erwartende Auslastung am gewünschten Ziel zu versorgen.
Alle notwendigen Elemente eines digitalen Besuchermanagementsystems, von der Frequenzmessung über den Datenaustausch und die Erarbeitung intelligenter Empfehlungen bis zur Bereitstellung im Smartphone oder an anderen digitalen Kontaktpunkten, werden vom Forschungsverbund Outdooractive (Immenstadt), dem WTZ Füssen (Hochschule Kempten), der Fachhochschule Westküste (Heide) und der Fachhochschule Kiel sowie dem Institut für Tourismus- und Bäderforschung in Nordeuropa in Kiel, anhand von Pilotanwendungen untersucht. Auch die Integration in andere smarte Entwicklungen in den Destinationen spielt dabei eine Rolle.
Die Pilotregionen befinden sich im Allgäu (Bayern), im Ruhrgebiet und im Sauerland (beide in Nordrhein-Westfalen) sowie in Schleswig-Holstein an der Nordsee und an der Lübecker Bucht (Ostsee).
Ziel des auf drei Jahre angelegten Projektes, das im Januar 2022 begonnen hat, ist die Erarbeitung von Daten und Lösungen, die den Pilotregionen helfen, ein funktionierendes Besuchermanagement zu testen, zu verbessern und dabei Erfolgsfaktoren zu identifizieren, die auf andere Destinationen übertragbar sind. Dabei spielen Algorithmen der Künstlichen Intelligenz (KI) für die Prognose und die Generierung von Empfehlungen eine wichtige Rolle. Das Projekt wird vom Bundeministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz aus dem Programm „KI-Leuchttürme“ mit insgesamt rund 3 Millionen Euro gefördert.
Fünf Verbundpartner in Schleswig-Holstein aktiv
Allein aus Schleswig-Holstein sind fünf Verbundpartner in dem Projekt aktiv. Dr. Michael Prange, Professor für Data Science an der Fachhochschule Kiel, übernimmt mit seinem Team das Modul, in dem mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz Modelle und Empfehlungen ausgearbeitet werden. „Wir freuen uns auf die Herausforderung, die vielfältigen Datenquellen an touristischen Orten in Deutschland in einer zentralen, standardisierten Datenplattform zusammenzuführen und für verschiedene Anwendungsfälle hilfreiche Informationen bereitzustellen, die ein ganzheitliches Besuchermanagement ermöglichen“, sagt Prange und ergänzt: „Das wird auch dem Tourismus in Schleswig-Holstein zugutekommen.“
Für die Fachhochschule Westküste sind Dr. Eric Horster, Professor für Tourismus, und Dr. Julian Reif, Forschungsreferent, mit ihrem Team des Deutschen Instituts für Tourismusforschung für die Sensortechnik wie beispielsweise Laserscanner oder Lichtschranken, die Datenbereitstellung, zum Beispiel via Mobilfunkdaten und für die Integration von bereits bestehenden Ansätzen smarter Destinationen in das Gesamtprojekt verantwortlich. „Unser Ziel ist es, möglichst viele weitere Digitalisierungsprojekte mit Bezug zum digitalen Besuchermanagement mit unserem AIR Projekt zu vernetzen. Die Entwicklungen sind einfach so dynamisch, dass mit dieser Maßnahme der Bündelung von Kompetenzen und Ideen der größtmögliche Nutzen für die Branche erzielt werden kann!“, sind sich Professor Horster und Dr. Reif einig.
Use Case in der Lübecker Bucht
Die Lübecker Bucht stellt einen Use Case, in dem bereits zahlreiche Daten und Erfahrungen mit der Ausspielung der Empfehlungen vorliegen: Für den Strandticker hat Paul Stellmacher von der Tourismus-Agentur Lübecker Bucht bereits einen zweiten Platz beim Deutschen Tourismuspreis gewonnen. „AIR gibt uns die Chance, das sich bereits in Betrieb befindliche System zum Besuchermanagement wissenschaftlich fundiert weiterzuentwickeln. Gleichzeitig freuen wir uns, unsere bisherigen Erfahrungen umfassend einbringen zu können, um so einen signifikanten Beitrag für mehr Urlaubsqualität im ganzen Land zu leisten“, zeigt sich Stellmacher überzeugt.
Auch an der Nordsee werden bereits etablierte Standorte (St. Peter-Ording und Büsum) einbezogen, aber auch neue Anwendungen erforscht, zum Beispiel im Bereich der öffentlichen Mobilität. Die Koordination liegt bei Frank Ketter vom Nordsee Tourismus Service. „Wir wollen mit diesem Projekt die Diskussionen zum Thema Tourismusakzeptanz versachlichen indem wir belastbare Besucherzahlen generieren und konkrete Lenkungsvorschläge erarbeiten“.
Das Institut für Tourismus- und Bäderforschung in Nordeuropa (NIT) in Kiel hat die Gesamtkoordination des Verbundes übernommen. Das Team um Dr. Dirk Schmücker ist vor allem für die Kommunikation und die Schnittstellen zwischen den insgesamt neun Verbundpartnern zuständig. „Wir denken, dass sich der Aufwand lohnt, um mehr darüber zu erfahren, wie Menschen nicht einfach per Verbot ‚gelenkt‘, sondern gezielt mit den richtigen Informationen versorgt werden können, um künftig mehr Balance im Tourismus zu erreichen“, so Schmücker.